„Als ich das erste Mal die Katakomben von S. Gennaro besuchen wollte, wandte ich mich, an einer Kreuzung plötzlich meines Weges nicht mehr sicher, an einen freundlich blickenden Passanten. Er wies mir eine Richtung, die offensichtlich nicht stimmen konnte. “Sie liegen nicht dort?” fragte ich und zeigte in die andere Richtung. “Ah”, meinte er, “die Katakomben von S. Gennaro! Ich dachte, Sie wollten zu den wahren Katakomben!” Sogleich versuchte ich, Genaueres über diese unerwartete Auskunft zu erfahren; dann bat ich S. Gennaro um Verzeihung und begab mich zu den “wahren Katakomben”…
Ich ging in einem Zug von Frauen und Mädchen, die Laternen trugen, deren Lichter noch nicht angezündet waren. Händler verkauften sie am Wegrand. Die Gesichter waren feierlich: Man spürte, daß diese Lampions nicht für fröhliche Zwecke bestimmt waren. Am Ende der Prozession tauchte die Kirche auf, das Ziel unserer Prozession. Von dort gelangte man in die Katakomben…

Hinter einer Nische bot sich mir ein Schauspiel dar, das mich sofort gefangennahm. Es glich weder den aufgeschichteten Mumien der Kapuzinergruft in Palermo noch den zierlichen Knöchelchen, die in der römischen Kapuzinerkirche der Unbefleckten Empfängnis die feinsten Arabesken bilden. In zwei breiten Gängen von etwa zehn Metern Höhe und hundert Meter Tiefe reihten sich Tausende von Totenschädeln aneinander und allerlei andere Knochenteile, die von unzähligen Laternen erleuchtet wurden. Schwarze Holzkreuze hoben sich in kalkweisser Umrahmung von den Wänden ab. Inmitten dieses makabren Dekors, ein wenig erhellt vom Lichteinfall der Maueröffnungen, irrten die Menschen wie Schatten umher, knieten nieder, beteten.
…Die Knochenhaufen, die sich längs der Gänge auf einer Art Gehsteig stapeln, sind nicht sehr hoch. In einem der Gänge jedoch hat man vor der Wand einen Triumphbogen errichtet – den Triumphbogen des Todes. Dieser Todesfries ist umgeben von einem Blumenmeer. Manche Knochen sind in Glaskästchen eingeschloßen. Mitunter krönt eine Laterne einen Schädel wie der Heilige Geist den Kopf der Apostel. Manchmal sind Lichter im Innern der Schädel, was ihnen einen diabolischen Ausdruck verleiht.
Im ersten, von einem Altar geteilten Gang steht eine Krippe. Es ist tatsächlich eine rührende Idee, daß man zum Bild des Todes jenes von Hoffnung und Leben gesellte. Die Figuren der Krippe sind menschengroß und bilden das Pendant zu einem pathetischen Christus am Eingang. Hinter diesem Altar, der den letzten Teil des Ganges verbirgt, spielte sich eine seltsame Szene ab: Eine Gruppe von Frauen drängte einen Mann, der vor drei großen, im Boden verankerten Kreuzen gestikulierte, er solle Gebete vortragen. Hier, am Fuße dieses Kalvarienbergs, zelebrierte man den wahren Totenkult.

Dieser Kult hatte im übrigen nichts von Tragik oder Magie. Der “Vorbeter”, ein junger Mann, dessen Stimme man ebenso einem Prediger wie einem neapolitanischen Sänger zuschreiben konnte, war voller Lebenslust. Er verrichtete seine beinahe rituelle Arbeit noch mit echter Hingabe: Wer ein Gebet bei ihm bestellen wollte, setzte sich auf ein kleines Bänkchen neben ihm, als sollte ein Orakel befragt werden. Anfangs rührte er sich nicht, dann, ganz allmählich, gerieten Kopf und Arme in Bewegung, und sein Rosenkranz bimmelte wie ein Glöckchen. Ein Pater Noster und ein Ave Maria leiteten das Gebet ein; es folgte eine Reihe ganz persönlicher Anrufungen und Formeln: “Teure Geister, teure Tote, erbarmt Euch unser! Wir bitten Euch um den Segen für Arbeit, Beruf und Geschäft. Wir sind nicht anspruchsvoll: Wir bitten um nichts als Brot und Zwiebeln.” Pane e cipolla waren sein panem et circenses. Seine Stimme erbebte in einem leichten Tremolo, was den Zuhörer zumindest innerlich erheitern und die “teuren Geister” im Jenseits erweichen sollte. Aber auch anderes gehörte zu den Aufgaben des Mannes: Gegen zusätzliche Spenden segnete er neuerworbene Totenschädel…
Doch Rechte fordern Pflichten. Eine Frau, die ihren Schädel nicht fand, bat, ganz außer sich, den “Vorbeter” um Hilfe. “Es ist ein gelber stark leuchtender Schädel”, sagte sie. Beide machten sich auf die Suche. “Da haben wir ihn”, rief der “Vorbeter” triumphierend und kramte das verlorene Objekt hervor. Er hielt ihn der Besitzerin hin, gab gratis seinen Segen und kehrte zu seinen Kunden zurück. Doch mit welcher Liebe umsorgte die Frau ihren ersehnten Schädel. Sie pustete den Staub von ihm, polierte ihn mit dem Taschentuch, küßte und liebkoste ihn, setzte ihn dann behutsam auf ein Kissen, das sie mitgebracht hatte, und zündete mehrere Lichter davor an.
Die Wahl eines Schädels wird nicht leichtgenommen: Suchenden Auges schlendert man langsam durch die Gänge, an den traurigen Knochenresten entlang. Plötzlich bleibt man stehen, bückt sich und greift einen Totenschädel heraus, auf dem noch kein Name zu lesen ist. Man beschaut ihn von allen Seiten, um Festigkeit und Resonanz zu prüfen. Dann dreht und wendet man ihn, betastet, wiegt und beschnuppert ihn, als handle es sich um eine Melone. Schließlich folgt die Zeremonie der Reinigung. Ich habe junge Frauen beobachtet, die ganz in hausfraulicher Manier vorgingen: Sie bürsteten und scheuerten ihren Schädel mit Alkohol und Ätznatron. Hatten sie ihn zweimal richtig eingerieben, glänzte er wie eine neue Münze. Ein Wächter mit Schirmmütze geht diese Gänge auf und ab, gibt Ratschläge und beschafft notwendiges Werkzeug. Ich hörte, wie er von einem ganz in schwarz gekleideten Mann gefragt wurde, ob er über einen Damenschädel verfügte. “Momentan ist kein einziger frei!” antwortete er. “Doch wir erwarten für morgen einige Skelette, da müßte etwas dabei sein.” Eben hatte er einer Frau bei ihrer Wahl beigestanden, als das kleine Mädchen, das mit ihr war, protestierte: “Mama, ich mag diesen Kopf nicht, ich will einen mit Zähnen.” Kinderschädel sind nicht zu finden. “Alle wollen einen” sagte der Wächter. “Ich habe mindestens zehn Vorbestellungen.“
Roger Peyrefitte, 1952
Roger Peyrefitte (geb. 1907 in Castres, gest. 2000 in Paris) war ein französischer Schriftsteller und Diplomat. Die Beschreibung des Kults, Totenschädel in Neapel und speziell im Fontanelle Friedhof in der Sanità zu adoptieren, wird mit vielen Details beschrieben. Auch heute findet man noch den Kirchenaltar mit Sitzbänken und einer Krippe im Hintergrund, umgeben von Totenschädeln. Der Kult der Adoption fand speziell während und nach dem zweiten Weltkrieg großen Anhang: den Schädel wurde die Rückkehr der Ehemänner erbeten, im Gegenzug betete man für einen Einzug der Seele des Schädels vom Fegefeuer in den Himmel. Das Pflegen und die Anfragen an den im Fontanelle Friedhof adoptierten Schädel veränderten sich aber auch im Laufe der Jahre, speziell in den schwierigen Zeiten der Nachkriegszeit wurde, wie in diesem Text zu lesen, auch nur ein wenig Brot und Zwiebeln erfragt. Der Kult wurde von der katholischen Kirche verboten und im Fontanelle Friedhof illegalerweise weitergeführt. Der Hinweis auf Vorbestellungen von Kinderschädeln, unschuldige Wesen und daher sehr beliebt, weist auf einen recht starke Verbreitung des Kults im neapolitanischen Volk zu Anfang der fünfziger Jahre hin.
Weitere Berichte und Zitate über Neapel und die Region findet ihr in meinem Blog.