…wenn ein Fundus von Erlebtem und Wissen die Bedingung aller Reisebeschreibungen ist, wo fände sie in Europa einen Gegenstand wie Neapel, das allstündlich den Reisenden so gut wie den Einheimischen zu Zeugen macht, wie uralter Aberglaube und allerneuster Schwindel sich zu zweckmäßigen Prozeduren vereinen, deren Nutzniesser oder Opfer er ist. Wie unvergleichlich durchdringen sie sich in den Festen, die diese Stadt verzehnfacht besitzt, weil jedes Quartier seinen eigenen Heiligen feiert, an dessen Namenstage es die anderen Quartiere zu Gaste lädt. Wie leicht ließe in der Darstellung dieser Feste eine stichhaltige, bereichernde Kenntnis von den Lokalitäten und Sitten der Stadt sich einbringen – ein Aspekt der Reisebeschreibung, auf den die deutschen Leser, kaum fünfzig Jahre nach Gregorovius und Hehn, schon gänzlich zu verzichten haben lernen müssen…

Wenn der Tag gekommen ist und die Menge Stunde um Stunde unter innigen Gebeten im Dom und im Vorhof des Wunders harrend auf den Knien liegt, dann haben die unter den Neapolitanern, deren Stammbaum auf die Familie des Heiligen zurückführt, das Recht, seiner säumigen Neigung für den Schutzbefohlenen mit lautem Schimpfen, herrischen Flüchen so lange nachzuhelfen, bis ein winkendes Taschentuch vom Altar her verkündet, das Wunder sei eingetreten, das Blut flüssig geworden. Warum hören wir nichts…von Piedigrotta, dem orgiastischen Lärmkult der Nacht vom 8. September und den gewaltigen Festgelagen, zu denen die Neapolitaner, wie die Nordländer in die Lebensversicherung, allwöchentlich bei ihrem Krämer mit einigen Soldi sich einkaufen, um, wenn die Zeit gekommen, über jedes Maß und Vermögen schlemmen zu können. Den traditionellen Beschluß dieser Mahlzeit macht ein Fläschen Rizinusöl. Und das heidnische Lärmen der Piedigrottanacht setzt sich in den alltäglichen Festen fort, die der Neapolitaner mit der Technik begehrt. Wenn er dem Ziel seiner Wünsche sich nähert, ein Motorrad erwerben zu können, probiert er gewissenhaft alle erreichbaren durch, um das geräuschvollste zu behalten. Nie werde ich die Eröffnung der Untergrundbahn vergessen, die tagelang nicht zu benutzten war, weil alle Schalter von der Straßenjugend belagert waren, die den dröhnend einfahrenden Zug dröhnender überschrie und die Tunnel während der Fahrt mit einem zerreissenden Heulen erfüllte. Und noch die “Landpartie”, die Fahrt in Autokarawanen nach St. Elmo oder den Vomero herauf, muß in Staub und Getöse gebadet sein, um die rechte Freude zu machen.
Walter Benjamin, um 1928
Walter Benjamin war ein deutscher Kunstkritiker und Philosoph der Frankfurter Schule. Im Jahr 1924 und 1925 verbringt er im Alter von 32 Jahren zusammen mit Theodor Adorno, Siegfried Kracauer und Alfred Sohn-Rethel mehrere Monate am Golf von Neapel. Der Golf von Neapel und die Amalfiküste waren in jenen Jahren ein beliebtes Reiseziel besonders von deutschen, englischen und russischen Philosophen und Künstlern, die hier Inspiration und Ruhe suchten.
Ein interessanter Text von Benjamin aus seinem Aufenthalt in Neapel um 1928, in dem er die Reisebeschreibungen aus Deutschland kritisiert. Die Zeiten haben sich sicherlich verändert und heute gibt es ausführliche Reiseberichte im Fernsehen, tatsächlich haben die Reisebeschreibungen Neapels allerdings auch nach diesem Text lange Zeit nicht selten ein allzu negatives Bild der Stadt abgegeben. Neapel hat sich seit 1928 sicher stark verändert, dennoch kann man im heutigen Neapel noch einige Ähnlichkeiten erkennen, wie sie damals von Walter Benjamin beschrieben werden. Ein gewisser Vorzug zum Lärm und zum Risiko, aber auch gleichzeitig zum Leben und trotz einiger Probleme jener Zeit doch liebenswürdig und voll an Erlebnissen. Ich könnte mir vorstellen, das auch Walter Benjamin den beschrieben Schwindel, Aberglauben und Lärm der Stadt akzeptierte konnte und ihm die neuen Erlebnisse doch wichtiger waren; denn sonst wäre ihm ein verstärkter oder veränderter Bezug der deutschen Schriftsteller zu Neapel wahrscheinlich nicht so wichtig.
Weitere Berichte und Zitate über Neapel und die Region, auch von Walter Benjamin, findet ihr in meinem Blog.