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Neapel und Kampanien in der Literatur

Elena Ferrante und der Pessimismus in Neapel

Ich musste weg, im Sommer 1995 zog ich mit Imma fort aus Neapel. Ich mietete eine Wohnung mit Blick auf den Po, direkt am Ponte Isabella, mein Leben und das meiner dritten Tochter verbesserten sich sofort. Von dort aus über Neapel nachzudenken und zu schreiben, mit Klarheit darüber zu schreiben, war leichter. Ich liebte meine Heimatstadt, verzichtete aber stets darauf, ihre Pflichtverteidigung zu übernehmen. Ich war eher der Überzeugung, dass die Enttäuschung, zu der diese Liebe über kurz oder lang führte, wie eine Brille war, durch die man den gesamten Westen betrachten konnte. Neapel war die europäische Metropole, in der sich das Vertrauen in Technik und Wissenschaft, in den wirtschaftlichen Fortschritt, in die Gunst der Natur, in die Geschichte, die sich zwangsläufig zum Besseren entwickelt, und in die Demokratie mit grösster Deutlichkeit und schon sehr früh als vollkommen haltlos erwiesen hatte. In dieser Stadt geboren zu sein – schrieb ich einmal und dachte dabei nicht an mich sondern an Lilas Pessimismus -, ist nur für eines gut: schon seit jeher und gewissermassen instinktiv gewusst zu haben, was heute unter unzähligen Vorbehalten nun langsam alle behaupten: Der Traum vom grenzenlosen Fotschritt ist in Wahrheit ein Alptraum voller Grausamkeiten und Tod.

Elena Ferrante, 2014

Das vierte Buch der neapoitanischen Saga in der italienischen Version

Die Autorin

Elena Ferrante (geb. in Neapel) ist das Pseudonym einer italienischen Schriftstellerin, die sich unter Wahrung ihrerAnonymität seit den 1990er Jahren als Romanautorin einen Namen gemacht hat. Mit ihrer Neapolitanischen Saga gelang ihr der internationale Durchbruch, sowohl auf dem Buchmarkt als auch bei der Literaturkritik. Das Nachrichtenmagazin Time zählte sie 2016 zu den 100 einflussreichsten Personen weltweit.

Mein Bezug zum Test

Ich kann mich bis heute an diesen Ausschnitt aus dem vierten Buch der Reihe Die geniale Freundin (Neapolitanische Saga) erinnern, das ich vor einigen Jahren nach bereits vielen Jahren Aufenthalt in Neapel auf italienisch gelesen hatte und mich doch traf und vor einige Fragen stellte. Das Misstrauen an die Technik und den Fortschritt erinnerte mich an Alfred Sohn-Rethels Artikel über Technik in Neapel “Das Ideal des Kaputten”, in jenem Fall allerdings nicht von einem Neapolitaner sondern von einem Aussenbetrachter in den 1920er Jahren geschrieben. Die mit vielen Gegensätzen besetzte Stadt zeigt sich tatsächlich einerseits lebendig und lebensfroh, andererseits ist ein tief sitzender Pessimismus in den meisten Neapolitanern meiner Meinung nach verankert. Im neapolitanischen Alltag trafen sich mir oft die intensive Theatralik mit der Klarheit über die Nutzlosigkeit einer aufgesetzten Identität, die vielen Ideologien mit der nackten Wahrheit des Alltaglebens, der Lärm der Strassen mit der Abschottung und Suche nach Meditation und die Vergänglichkeit des Seins mit dem Gefühl der Unendlichkeit aufeinander. Ist dieser gefühlte Pessimismus vielleicht anmassend oder ein Erbe problematischer vergangener Epochen oder doch Teil einer intuitiven Weissheit? Trotz der manchmal übergreifenden Atmosphäre konnte ich das Beben der Zeit, vielleicht wegen der Grenzlage zwischen Mittelitalien und dem Übergang zum mediterranen Bereich Italiens, oder der Nähe zur starken Präsenz des Vesuvs und dem Zeugnis der untergegangenen Städte an seinem Hang, in dieser Stadt manchmal innerlich spüren. Welche Auswirkungen würden diese Spannungen auf Dauer auf meine Beziehungen, Freundschaften, meiner persönlichen Entwicklung und meinem Bezug zur Stadt Neapel haben?

Weitere Berichte und Zitate über Neapel und die Region findet ihr in meinem Blog.

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Neapel und Kampanien in der Literatur

Gregorovius Suche nach den Resten der Antike in Neapel

„In Neapel hingegen, in dieser Stadt des zufriedenen und sorgenlosen Lebens, befinden sich die architektonischen Monumente, die unsere Aufmerksamkeit anziehen, nicht in den Ruinen oder den Kirchen. Die Reste der Antike sind verschwunden; hier wurde nicht für die Ewigkeit gebaut.“

Ferdinand Gregorovius, um 1850 – von mir aus dem italienischen übersetzt

Ferdinand Gregorovius (1821-1891) war ein bedeutender deutscher Philologe und Historiker und bekannt für seine Studien über das Mittelalter in Rom. Seine “Wanderjahre in Italien” beschreiben in 5 Bänden (1856-1877) die verschiedenen Orte Italiens, unter anderem auch Capri und Neapel.

Ferdinand Gregorovius

Eine historisch interessante Anmerkung, in der Neapel um 1850, also nur 10 Jahre vor der Vereinigung Italiens und der unmittelbaren Auswanderung vieler Neapolitaner in den nächsten Generationen, von Gregorovius als zufriedene und sorgenlose Stadt bezeichnet wurde. Gregorovius Suche nach den Resten der Antike in Neapel, wie damals in Rom, den nahe gelegenen Phlegräischen Feldern, Paestum oder dem vesuvianischen Gebiet, stossen auf ein fast ergebnisloses Resultat. Im Falle von Neapel sind allerdings nicht die antiken römischen Architekten Schuld, sondern der Verlauf der Geschichte der Stadt Neapel. Wie auch heute noch gut in der auf der griechischen Struktur basierende Altstadt zu erkennen ist, hat Neapel eine durchgehende Geschichte erlebt und somit wurde die damals bedeutende antike Stadt Neapolis kontinuirlich erneuert und die Reste der Antike zugeschüttet, wiederverwendet oder in andere Bauten integriert. Der Fund des antiken Hafens an der heutigen Piazza Municipio und den antiken Theatern, die über der heutigen Via der Tribunali liegen, oder auch der Zugang ins unterirdische Neapel an der San Lorenzo Kirche, weisen auf die starke historische Stratifizierung der Stadt Neapel hin.

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Cavour und die Vorstellungen von Neapel im italienischen Staat

Man wird die Neapolitaner nicht mit Beleidigungen verändern können…nun reicht es mit dem Belagerungszustand, mit diesen Methoden der absoluten Regierung. Alle sind in der Lage mit einem Belagerungszustand zu regieren. Ich werde sie mit der Freiheit regieren und beweisen was aus diesen schönen Vierteln nach 10 Jahren Freiheit wird. In zwanzig Jahren werden sie die reichsten Provinzen Italiens werden.

Cavour, 1861 (im Sterbebett) – von mir aus dem italienischen übersetzt

Ein historisch interessantes Zeugnis über die Vorstellungen Cavours vor seinem verfrühten Tod. Die Integration des Königreichs von Neapel in den italienischen Nationalstaat wird in den darauffolgenden 20 Jahren tatsächlich nicht zur Entwicklung zur reichsten Provinz Italiens führen, sondern zu einer massiven Auswanderung in Richtung Amerika und einer großen Verarmung, erhöhten Steuern und einer Unterdrückung des als Brigantismus beschriebene Phänomen der lokalen Aufstände führen wird. Die nationale Einheit wurde somit nie wirklich durch eine freiheitliche Regierung verstärkt, die von der Bevölkerung des Königreichs von Neapel nach einer zu konservativen und monarchischen Regierung der Borbonen wohl gewünscht wurde. Die Vorstellungen von verschiedenen Politikern und der Bevölkerung des Süden und des Norden Italiens und die Konsequenzen der Geburt des italienischen Nationalstaats, haben sich teilweise in sehr verschiedene Richtungen entwickelt und sind leider bis heute noch sichtbar.

Camillo Paolo Filippo Giulio Benso, bekannt als Cavour (geb. in Turin, 1810, gest. Turin, 1861), war ein italienischer Unternehmer und Politiker. Cavour war von 1850 bis 1852 Minister des Reichs von Sardinien und von 1852 bis 1859 und von 1860 bis 1861 Präsident des Ministerrats. Im Jahr seines Todes 1861 wird er zum ersten Präsident des Ministerrats des neu proklamierten italienischen Staats. Cavour war Chef der sogenannten Destra storica und gilt als einer des Protagonisten des Risorgimento und als Verfechter der liberalen Ideen, des zivilen und wirtschaftlichen Fortschritts, der antiklerikalen und nationalen Bewegungen. Obwohl er keine klaren Vorstellungen über einen Nationalstaat Italiens hatte, gilt er bis heute als einer der bedeutendsten Gestalter der Geburt des heutigen Nationalstaats Italien.

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Charles Dupaty und der Verkehr in Neapel und der Via Toledo

Die menschliche Vegetation hat Neapel seine gesamte Fruchtbarkeit, seine volle Energie und seine natürliche Dauer zur Verfügung gestellt. So ist die Fülle des Volkes in Neapel extrem. Man sieht sie. Überall verteilt sich die Menge; überall fürchtet man sich ein Kind zu zerquetschen: die Plätze, die Straßen, die Geschäfte, die Häuser scheinen von Einwohnern überflutet zu sein.

Dieses Volk, das durch die Stadt laufen zu scheint anstatt zu spazieren, wird kontinuirlich von Kutschen und und den verschiedensten Kaleschen beflogen mehr als befahren. Trotz dieser Lage, sieht man auf den Straßen sehr wenige Unfälle. Der Verker der rue Saint-Honorè in Paris ist dabei nicht mit dem Verkehr der Via Toledo vergleichbar. Wenn Ihr abends auf die Via Toledo gehen solltet, werden Euch die vielen Fackeln der vielen Kutscher vor ihren Gefährten an einen großen Trauermarsch erinnern.

Charles Dupaty, 1785 (aus dem italienischen von mir übersetzt)
Charles Dupaty

Charles Dupaty (geb. 1746 in La Rochelle, gest. 1788 in Paris) war Staatsanwalt und President à mortier der Parlaments von Bordeaux, dessen Position innerhalb der französischen Justiz des Ancien Régime sehr wichtig war. Neben seiner juristischen Aktivität war er auch als Schriftsteller anerkannt. Dupaty reiste nach Italien um die geltenden Justizsysteme und Strafverfahren zu studieren. Aus den aufgezeichneten Stichworten dieser Reise entwickelte er ein Reisebuch: die Lettres sur l’Italie. Das Werk konnte einen gewissen Erfolg in Frankreich innerhalb der Kunstszene und der Reiseberichte der Grand Tour verzeichnen. Die politischen Inhalte über Italien und die Abhandlung von sozial-politischen Thematiken über die dominanten Klassen brachten sein Werk auf den Index Librorum Prohibitorum, die Liste der verbotenen Bücher.

Die Via Toledo galt nach seiner Einrichtung im 16. Jahrhundert, an Stelle der ehemaligen Stadtmauer, über einige Zeit als längste und auch eine der lebendigsten Straßen des Kontinents galt und von vielen Schriftstellern wie auch Goethe oder Stendhal beschrieben wurde. Heute ist die Via Toledo seit einigen Jahren größtenteils wieder eine Fußgängerzone fernab vom intensiven Verkehr in Neapel, aber doch weiterhin sehr lebendig. Heute hebt sie sich allerdings nicht mehr durch ihre Länge und Breite hervor und wird als eine der Hauptgeschäftstraßen der Stadt mehr tagsüber als abends belaufen. Interessant ist hingegen der Bezug auf den oft chaotischen Verkehr in Neapel mit den Motorrollern und Pkws in den Straßen und Gassen der Stadt, bei dem auch bis heute interessanterweise und zum Glück recht selten heftige Unfälle geschehen.

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Turgenews Entrüstung über eine verfehlte Besichtigung von Capri

Von deinem gerade angekommenen Brief erfahre ich, daß du etwa einen Monat in Neapel verbracht hast, die Ausgrabungen von Pompeji besichtigt hast, aber nicht ausreichend Zeit gefunden hast um Capri zu besichtigen. Und schämst du dich nicht?… Neapel ist schön, Pompeji ist sehr interessant, besonders für dich, da du dich so stark mit der Geschichte verbunden fühlst. Aber die Insel Capri ist ein Wunder! Und nicht weil sie die traumhafte blaue Grotte hat, sondern weil diese gesamte verwünschte Insel ein wahrer Tempel der Göttin Natur ist, eine Verkörperung der Schönheit. Ich war drei mal auf Capri, über lange Zeiträume, und ich sage dir: die Eindrücke werden mich bis in den Tod verfolgen. Warum hast du nicht die Möglichkeit genutzt diese Insel zu besichtigen? Ich verstehe es nicht! Siehst du, so seid ihr Russen; im Grade auch vor Venus gleichgültig entlangzulaufen, falls Venus sich in einer modernen Tracht präsentieren sollte. Doch solltest du wissen, daß die neue Generation der russischen Intellektuellen bald Capri zu ihrem neuen Wallfahrtsort ausküren werden, und, wer weiß, vielleicht werden wir dort mal eine große russische Kolonie aus Malern, Schriftstellern, etc. vorfinden.

Iwan Sergejewitsch Turgenew, 1871

Das blaue Wasser und die steilen Felsen von Capri

Iwan Sergejewitsch Turgenew (geb 1818 in Orjol, gest. 1883 in Bougival bei Paris) war ein russischer Schriftsteller. Ab 1855 lebte Turgenew mit nur kurzen Unterbrechungen im Ausland, besonders in Deutschland und Frankreich, aber auch in Italien und am Golf von Neapel, von wo aus er viel über sein Heimatland Rußland und andere Werke schrieb.

Turgenews Entrüstung über eine verfehlte Besichtigung von Capri an seinen russischen Freund Danilewski (ein Verfasser von historischen Romanen) ist enorm. Allerdings ist weiterhin die Anziehungskraft der Orte am Golf von Neapel komplett unterschiedlich. So bevorzugen manche Besucher eher die historischen Ausgrabungsstätten am Vesuv wie Pompeji, andere das faszinierende und lebendige Stadtleben Neapels, manche eher die Insel Ischia als Kurort zum einfachen entspannen. Die Insel Capri ist sicher eine Kraft der Natur und die steil herausragenden Kalkfelsen, Farbspiele und das Panorama in den Golf von Neapel geben ein beeindruckendes Naturschauspiel ab. Tatsächlich wird Capri in den kommenden Jahrzehnten nach dem Brief Turgenews viele Intellektuelle, Künstler und Schriftsteller anziehen, bis aus der Insel ab den 50er Jahren ein Treffpunkt für Prominente wird. Ein schöner Text über Capri und den Effekt, den sie auf Turgenew ausüben konnte.

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