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Neapel und Kampanien in der Literatur

Ramon Gomez de la Serna, das Neapel zwischen Ewigkeit und Tod

In diesem gleichmütigen Leben ohne Morgen, das der kleinen Zeit keinerlei Wichtigkeit beimisst, lag – welche Lappalie für klägliche Blicke – das Besondere dieses in Spinnweben gehüllten Neapel, das keine Grenzen kennt. Die große Seele der Stadt wanderte von einer fernliegenden Zeit der Vergangenheit nach einer anderen, fern in der Zukunft liegenden; alles Kurzbemessene erschien ihr banal und erbärmlich. Es war schön, die ganze Leichtgläubigkeit einer Vorzeit zwischen den Fetzen der Wirklichkeit aufzuspüren. Inmitten der Asche die schwelende Glut allerältester Zeiten. In jener tremendistischen Stimmung lag das Tragische der Stadt; denn alle hätten eine Stadt, deren Fortbestehen gesichert war, für die augenblicklich Lebenden bauen wollen, mit anderen Worten, alle wollten länger leben, an den Punkt kommen, wo sie selbst das, was von ihnen kam, auskosten konnten. Wenn irgendeine Bitternis unter den Erhebungen dieser Stadt lag, so war es das Gefühl, nicht noch länger leben zu können. Man begriff dort, wie kurz das Leben doch war.

Ein Symbol von Neapel: Der Flussgott Nil in der Altstadt

Solch eine unnachgiebige Verwurzelung, wie sie den unsterblichen Städten des Kosmos eigen ist, ließ Lorenzo über all die Tage, die man wie einen einzigen, ewigen Tag durchlebt, hinaussehen. Auf ihm bewegt sich der unerschöpfliche Vorrat an Maccheroni, endlos, wie aus Feldküchen eines Heeres kommend – Nahrung, die Kanonen ähnelt, wie aus unterirdischen Öfen, riesige Behälter von unbegreiflich dehnbaren Maccheroni.

Lorenzo spürte in diesem Neapel eine so wunderbare Kraft, daß man sich wie in der Zeit der Cholera fühlte, nur ohne Cholera. Die antiken Seuchen verliehen dem Leben mehr Leben, mehr Gültigkeit. Man vernimmt den uralten Peitschenhieb, der das Leben auskosten und stärker fühlen läßt. Die Tage Neapels atmen eine dunkle Drohung. Gleichgültigkeit vortäuschend, ist sich dennoch jeder ihrer bewußt. Daher fühlt man Ströme von Mitleid und Klagen durch die Straßen fluten…

Dieses Volk war von solcher Echtheit, daß es stets der Katastrophe entgegensah; das Meer, das Erdbeben, die dichte Wolke, die Cholera, an keinem anderen Ort finden die Stätten der Toten ähnliche Vorbereitung. Daher zündet jeder sein Licht vor dem Heiligenbild an; sie wollen bereit sein.

Ramon Gomez de la Serna, 1927

Ramón Gómez de la Serna (geb. 1888 in Madrid; gest. 1963 in Buenos Aires) war ein spanischer Schriftsteller. Große Bekanntheit erreichte der von ihm gegründete literarische Stammtisch im Café Pombo in Madrid. Bis 1931, das Jahr in dem er nach Buenos Aires zieht, lebt de la Serna in Madrid mit häufigen Ausfenthalten in der Schweiz, Neapel, Florenz, London, Lissabon und Paris. Nach seinem Tod im Jahr 1963 in Buenos Aires wird sein Leichnam nach Madrid überführt und im Panteón de Hombres Ilustres beigesetzt.

Ramón Gómez de la Serna beschreibt ein Lebensgefühl der Stadt Neapel, das subjektiv ist, in Neapel aber nicht selten auch von sensiblen Schriftstellern in esoterischen Formen beschrieben wurde. Nicht selten wird der Stadt Neapel eine schwierige aber besondere Atmosphäre zugesprochen, vielleicht auch durch die Größe des historischen Teils der Stadt oder den großen Differenzen innerhalb Neapels bevorzugt, die einen gewissen Teil der Besucher immer wieder überrascht und fasziniert. Ein besonderer Hinweis von Ramón Gómez de la Serna gebührt somit auch, neben dem Gefühl der Ewigkeit und der Vergänglichkeit, dem Bezug der neapolitanischen Bevölkerung zum Tod, der auch heute noch an den vielen Hausaltaren mit Bildern an und in den neapolitanischen Palazzi oder besonderen Kultstätten wie dem Fontanelle-Friedhof nachzuempfinden ist.

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Lord Hamilton besichtigt Isernia und eine skurile süditalienische Tradition

Zu Isernia, einer saminitischen Stadt, die sich heute in der Provinz Molise befindet, feiert man jedes Jahr am 27. September ein großes Fest…Auf dem Markt wie überall in der Stadt verkaufen Christenmenschen unterschiedlichst geformte männliche Glieder aus Wachs – in Größen bis zu einem Zoll… Sie beten zu Sankt Cosimus und Damianus. Es sind fast nur Frauen…Von einer vernahm ich folgende Worte: “Gesegneter Sankt Cosimus, so soll er sein.” Andere sagten: “Heiliger Cosimus, alles sollst du von mir wissen” und “Sankt Cosimus, danke, danke.” Ich beobachtete noch dies und jenes, das sich in dem Kircheneingang abspielte, wo jede Frau ihre Votivgabe mit Küssen bedachte.

Lord Hamilton, 1781
William Hamilton: Aufzeichungen seiner Unterschungen im Koenigreich von Neapel

Sir William Douglas Hamilton ( geb. 1730 in Henley-on-Thames, gest. 1803 in London) war ein schottischer Diplomat, Kunstsammler und Vulkanologe. Von 1764 bis 1799 diente Hamilton als britischer Diplomat am Hof des Königreichs Neapel und nutzte die Zeit auch um die Erdbeben und vulkanische Aktivität im vesuvianischen Gebiet zu beschreiben. Für die Weimarer Klassik ist Hamilton insofern von Bedeutung, als er in Rom und Neapel mit Johann Wolfgang von Goethe und Karl Philipp Moritz zusammentraf und wegen seines archäologischen Sachverstandes großen Einfluss auf deren beider Italienbild ausübte.

Der Ausflug des Lord Hamilton nach Isernia ist ein interessanter Bericht über die Vermischung von vorchristlichen und christlichen volkstümlichen Traditionen, die heute vielleicht langsam am aussterben sind, im den letzten Jahrhunderten in großen Teilen Süditaliens aber noch stark vorhanden waren. In Neapel sind dafür zum Beispiel das rote Hörnchen in Chili-Form “Curniciello”, die Adoption der Totenschädel im Fontanelle-Friedhof im Stadtviertel Sanità, wie auch von Roger Peyrefitte beschrieben, oder auch der San Raffaele mit dem Fisch-Kult in der Gegend von Materdei starker Ausdruck dieser historischen Vermischung von Traditionen, die nicht selten aus heutiger Sicht sehr skuril wirken können.

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Dominique Fernandez und der kindliche Geist des wahren Neapels

Vor mir öffnete sich das magische Labyrinth mit seinen bassi, seinen mammas, seinen Kindern und Bordellen...Neapel, das wunderbare, obszöne, erfindungsreiche, großzügige, verzweifelte, fatalistische Neapel, die Hauptstadt einer Welt, wo Europa, Afrika und der Orient aufeinanderstossen, Neapel, das sich weigert zu reifen, um den Geist der Kindheit treu zu bleiben, dieses Neapel enthüllte mir nach und nach seine Geheimnisse. Ich war gebrannt und ergriffen, meiner selbst wie meiner Gewohnheiten als “zivilisierter Europäer” entblößt, ich war jäh nach hinten gezogen und in ein unendlich stärkendes Bad von Müttern und Parzen getaucht.

All die Dinge, die man mir westlich der Via Toledo beizubringen versuchen hatte, erschienen mir nun lächerliche Wissensbrocken, Klischees ohne jede Beziehung zur Wirklichkeit Neapels… Ich hatte jetzt andere Freunde, andere Ziele. Dank Vincenzo war es mir gelungen, die Bande zum Cafè Gambrinus, das in gewisser Weise einen Grenzposten darstellt, zu zerreissen. Unter der Führung dieses sympathischen, ungemein witzigen Gauners und Halunken trieb ich durch wonnig verfängliche Fülle. Oscar Wilde, der ohne einen Initiator, ohne Charon, der ihn ins Tartarenreich hinabführte, an sein Hotel Royal am Meeresufer gefesselt blieb, hatte niemals vom wahren Neapel schmecken dürfen.

Porporino, Buch von Fernandez über die Geheimnisse Neapels

Das wahre Neapel befindet sich auch nicht jenseits von Toledo, es liegt sogar unter der Erde. So wie die Stadt zwischen Ost und West aufgeteilt ist, gibt es auch eine Grenzlinie zwischen Oben und Unten. Wer sich nicht in einen Höhlenforscher verwandelt, wird nie etwas von dieser Stadt verstehen. Die Weigerung zu reifen, zu wachsen, die Abneigung gegen den Erfolg, die Treue zu seinen anachronistischen Lebensweisen, die Verneinung von Verantwortlichkeit und Pflicht, die eine “erwachsene Kultur” kennzeichnen, das alles bedeutet nicht allein, das die Menschen “müßig ihr organisches Leben genießen” wollen, sondern daß sie ihre Geburt, ihr Hineingeworfensein in das Maß der Zeit und in Mühsal nicht als unausweichliche Tatsachen hinnehmen.

Dominique Fernandez, 1983

Dominique Fernandez ist ein französicher Schriftsteller (geb. 1929) aus Neuilly-sur-Seine. Nach seinem Studium unterrichtete Fernandez in den Jahren 1957 und 1958 die französische Sprache an einem französischen Institut in Neapel. Als Autor schrieb Fernandez mehrere Bücher und gewann im Jahr 1982 den französischen Literaturpreis.

Fernandez beschreibt das östlich der Via Toledo gelegene Neapel als unreif und mit einem kindlichen Geist, bei der Erfolg und Mühsal kein Teil einer erwachsenen europäischen Kultur darstellen müssen. Die Entdeckung anderer Welten innerhalb der Stadt, dem unterirdischen Neapel als auch dem Teil Neapels der nicht erneuert wurde und sich durch enge Gassen und fehlende Distanz kennzeichnet, scheinen eine Bereicherung für Fernandez gewesen zu sein. Die Stratifizierung zwischem dem eleganten und reichen sowie dem historischen als auch dem unterirdischen Neapel sind bis heute präsent und eine Besichtigung ist für die interessierten, offenen und neugierigen Reisenden weiterhin sehr zu empfehlen.

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Roger Peyrefitte besichtigt den Cippus Abellanus

Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, den cippus abellanus zu besichtigen, eine archäologische Besonderheit. Es handelt sich um einen Stein aus dem antiken Abella, dessen Inschrift das Hauptzeugnis der Sprache der Osker ist. Ein Nachfolger des heiligen Paulinus hatte ihn dem kleinen Priesterseminar von Nola vermacht. Es liegt mir fern, als Experte der oskischen Sprache und der Geschichte ihres Volkes gelten zu wollen. Mir ist davon nichts bekannt außer der Vermutung einiger, daß auf das Oskische das Wort “obszön” zurückzuführen sei.

Der Pförtner wunderte sich, als ich ihm meinen Wunsch vortrug, den cippus abellanus zu sehen. Er hatte nie davon gehört, und ich fürchtete schon, daß meine Reise umsonst gewesen sei. Ich versicherte ihm, daß sich dieser Stein meinem Führer zufolge in der Bibliothek befinden mußte. Er verstand noch weniger: “Ein Stein in der Bibliothek? Es gibt nur einen im Physiklabor.” Ein unerwarteter Ort für eine ehrwürdige Inschrift: Doch ich wollte mein Glück versuchen und bat ihn, mich hinzuführen.

Unentschlossen blieb ich auf der Schwelle stehen: Schüler in Kutten oder kurzen Hosen, um eine große Druckmaschine geschart, lauschten den Ausführungen eines Abbès. Der Physiker entpuppte sich als Archäologe: Er erklärte mir den cippus, wie er zuvor die Druckmaschine erklärt hatte. Es lag ihm viel daran, mir zu beweisen, daß als einzige unter all den Wissenschaftlern zwei Geistliche aus dem kleinen Priesterseminar die siebenundsechzig Zeilen des Textes richtig entziffert hatten. Er wies auf das Wort ERAKLEIS hin, dessen wahre Bedeutung sie erkannt hätten. “Mommsen”, meinte er, “irrte sich gewaltig. Er glaubte, damit sei Herkules gemeint, statt dessen handelt es sich um Herkulaneum!”… Lange vor dem legendären Ausbruch, dem Herkulaneum zum Opfer fiel, hatte diese Stadt schon unter der Tyrannei des Vesuv zu leiden gehabt, wobei ihre flüchtenden Bewohner in Abella und Nola ein Obdach fanden. Im Gedenken an dieses Ereignis wurde die Inschrift eingraviert. Sie proklamiert die Gleichheit der Rechte für die Flüchtlinge und Bürger in den beiden Städten.

Roger Peyrefitte, 1952
Der cippus abellanus und die Reste der oskischen Sprache

Roger Peyrefitte (geb. 1907 in Castres, gest. 2000 in Paris) war ein französischer Schriftsteller und Diplomat. Bis heute gilt die Theorie des Mommsen, wobei der Cippus abellanus die territorialen Rechte des Herkules-Tempels zwischen den antiken Gemeinden von Nola und Avella begrenzt. Durch die schwierige Entzifferung der lokalen antiken Sprache der Osker, der Cippo ist dabei zusammen mit der Tafel von Agnone wohl der wichtigste archäologische Fund, ist eine sichere Aussage bisher nicht möglich gewesen. Theodor Mommsen war der wichtigste Klassizist des 19. Jahrhunderts, allerdings hatte auch er kein Bezug zur oskischen Sprache und so wurde seine Theorie bis heute beibehalten. Die interessante These des Geistlichen wäre eine mögliche Alternative, denn vor dem Ausbruch hatte der Vesuv mehrere intensive Erdbeben, wie das katastrophale etwa 16 Jahre vor dem von Plinius beschriebenen großen Ausbruch von 79 n. Chr., das ebenfalls viele Tote und Flüchtlinge zur Folge hatte. Der Cippus Abellanus wird heute etwa auf das Jahr 110 v. Chr. datiert und befindet sich weiterhin im Bischofsseminar von Avella, zwischen Neapel und Avellino. Avella ist wie in der Antike noch heute für eine herausragende Haselnußproduktion bekannt.

Avella heute, nette Ortschaft am gruenen Partenio-Gebirge an der Grenze der Provinzen von Neapel und Avellino

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Goethes Bootsfahrt nach Pozzuoli

Eine Wasserfahrt bis Pozzuoli, leichte Landfahrten, heitere Spaziergänge durch die wundersamste Gegend von der Welt. Unterm reinsten Himmel der unsicherste Boden…

Der herrlichste Sonnenuntergang, ein himmlischer Abend erquickten mich auf meiner Rückkehr; doch konnte ich empfinden, wie sinneverwirrend ein ungeheurer Gegensatz sich erweise. Das schreckliche zum Schönen, das Schöne zum Schrecklichen, beides hebt einander auf und bringt eine gleichgültige Empfindung hervor. Gewiss wäre der Neapolitaner ein anderer Mensch, wenn er sich nicht zwischen Gott und Satan eingeklemmt fühlte.

Johann Wolfgang von Goethe, Neapel, 1787

Goethe in Italien, Tischbein

Goethe war einer der größten Schriftsteller und Dichter der Geschichte Deutschlands und ist auch international anerkannt. Goethe reist im Alter von 37 Jahren im Jahr 1786 über etwa 2 Jahre bis 1788 das erste Mal nach Italien.

Der Golf von Neapel gilt für viele als eine der bekanntesten Landschaften die wir kennen und war besonders im 18. Jahrhundert ein Sehnsuchtsziel durch die damals mögliche Erreichbarkeit. Goethe hatte sicherlich das Glück, diese Landschaft bei seinem Ausflug nach Pozzuoli an einem besonders schönen Tag und faszinierenden Sonnenuntergang beobachten zu können. Bei klarer Luft und einem intensiven Abendlicht gibt natürlich auch der Golf von Neapel mit seinen vielen Farben und der faszinierenden Geologie sein schönstes Bild ab. Der Bezug zu Gott und Satan, oder dem “von Teufeln bewohntem Paradies”, ist ein öftermals vorgekommene Beschreibung der so schönen aber auch vulkanischen und feurigen Landschaft als auch zur etwas verrückten, chaotischen und lebendigen Stadt Neapel und ihren Einwohnern. Der berühmte neapolitanische Philosoph Benedetto Croce, aber auch viele Einwohner heute, legen allerdings auch viel Wert darauf diese romantische aber auch etwas dramatische Bild der Besucher zu verändern.

Das Zitat von Goethe über die Neapolitaner und Sankt Januarius, über die empfundene Ruhe in den lauten Strassen Neapels sowie weitere Berichte und Zitate über Neapel und die Region finden Sie in meinem Blog.