In den letzten Jahren der Republik und in der Kaiserzeit wurde Neapel zur Stadt der Vergnügungen und des Müßiggangs. Ihr griechischer Charakter unterschied sie von allen anderen Städten der ehemaligen Magna Graecia, die zu kleinen Orten provinziellen, eintönigen Lebens herabgesunken waren. Die Nähe zu Rom lockte reiche Müßiggänger in ihre gesegnete Landstriche…Es kam, wer Abstand vom ermüdenden Leben der Hauptstadt suchte sowie Künstler und Gelehrte, die von der griechischen Sprache und den Bräuchen der kampanischen Stadt besonders angezogen waren.
Giovanni Pugliese Carratelli, 1956
Giovani Pugliese Carratelli (geb. in Neapel, 1911, verst. in Rom, 2010) war ein italienischer Historiker der römischen Antike. Bei seinem Aufenthalt in Rodi kommt er mit Archäologen wie Halbherr in Kontakt, während er in Neapel mit dem berühmten Philosophen Benedetto Croce kollaboriert. In diesem Text bezieht sich Carratelli auf die stark erhaltende griechische Identität der Stadt Neapels, die nach einigen Berichten auch noch zur Zeit der römischen Kolonialisierung Kampaniens stärker als woanders vertreten sein soll. Einer der wichtigsten Hinweise auf die erhaltene griechische Identität Neapels ist die Wahl von Kaiser Nero sich bei seinem Auftritt in griechischer Sprache im Theater in Neapel auf seine Reise nach Griechenland vorzubereiten, da hier das griechische Publikum als besonders anspruchsvoll galt.
Vermutlich ist die Pastiera zusammen mit dem Babà und der Sfogliatella die berühmteste von allen neapolitanischen süßen Köstlichkeiten, deren Herkunft sich in der Vergangenheit verliert, so daß sie bis auf die Legende der Sirene Parthenope zurückgeführt wurde: an einem wunderschönen Frühlingstag entschied sie sich, von der Schönheit dieser Orte beeindruckt, im Golf von Neapel ihren Gesang anzustimmen.
Die Legende
Fasziniert von ihrem Liebreiz bot das Volk ihr einige Produkte aus diesem Gebiet an und sieben Jungfrauen überbrachten der Sirene diese Gaben: Mehl, Symbol des Reichtums; Ricottakäse, Zeichen der Üppigkeit; Eier, Sinnbild der erneuten Produktion; in Milch gekochter Weizen, als Symbol der Vereinigung des Tier- und Pflanzenreiches; Orangenblütenwasser, die Düfte der kampanischen Landschaft; Gewürze, mit denen die Völker der Sirene ihre Ehrerbietung bezeigten; Zucker, so süß wie ihr Gesang. Während der Geschenkübergabe vermischten sich die Erzeugnisse, wodurch zufällig eine unvorstellbar genussreiche Süßspeise entstand, die schließlich Parthenope zum Bleiben im Golf von Neapel überzeugte.
Verbreitung durch die Nonnen von San Gregorio Armeno
Die heutige Variante wurde wohl erstmals von den Nonnen im San Gregorio Armeno Kloster kreiert, um die Wiederauferstehung Christi durch die Vereinigung vom Orangenduft des Konventgartens mit den weiteren symbolischen Zutaten des Rezepts zu zelebrieren. Seitdem galten die Nonnen von San Gregorio Armeno als wahre Meisterinnen der Konditorei und verkauften an jedem Osterfest große Mengen der neapolitanischen Pastiera an lokale Adlige und die Oberschicht.
Vom Osterkuchen zum Klassiker
Eine klassische Süßspeise für Festtage, die sehr gut aufbewahrt werden kann (10 bis 15 Tage, obwohl ihr Teig alles andere als trocken ist), ist eng mit dem Osterfest und dem Frühjahr verbunden, da einige ihrer Zutaten gerade zu dieser Zeit und auf fast symbolische Weise wieder auftauchen. Ihre Zubereitung wurde jedoch in jüngster Zeit auch auf andere Festtage, insbesondere auf die Weihnachtszeit, verlegt. In den neapolitanischen Konditoreien findet man die Pastiera wegen der großen Nachfrage heute über das ganze Jahr verstreut.
Die Vermischung der Zutaten
Dieser Kuchen wird in runden Formen von unterschiedlichster Größe angerichtet, in denen die noch flüssige Füllung und das Aroma der Orangenblüten bilden die Charakteristiken, die mehr als alle andere diese Süßspeise einzigartig machen. Einige Tage nach der Zubereitung, wenn sich der Wohlgeschmack dieser Zutaten vollkommen “vermischt” hat, ist dieser Kuchen noch genussreicher.
Ich habe an jedem Feste der Madonna del Mercato, wie später an vielen andern, Gelegenheit gehabt, zu bemerken, wie auch hier alles ins Weltliche, Heitere, ins Volk selbst hineingezogen wird. Man geht nicht zum Feste, um den Anblick eines geistlichen Pompes oder kirchlicher Schaustellungen zu haben, man geht, um im Freien an der Dekoration der Natur sich zu ergötzen, in welche diese ungeheure Menschenmenge einen nicht zu sagenden Farbenreichtum hineinträgt.
Ich sah das neapolitanische Volk in ungezählten Tausenden bei dem Feste Centesimo, dem hundertjährigen Besuch der Madonna des Posilip beim Könige, und nimmer sah ich ein ähnliches Festtheater. Die herrliche Chiaia und die Villa Reale bis an die Grotte des Posilip hin mit buntem Menschengewühl übergossen, Fahnen, Teppiche, Blumen überall; der Golf lichtstrahlend, Ungeheuerlichkeit der Körpergestalten, wie endlich die bunte Menge von Amuletten und Symbolen des Aberglaubens bezeichnen, welche dort verfertigt umherlagen? Ich schaute diesen geheimnisvollen Künstlern zu. Wahrhaftig, man möchte sagen, sie machen Götter für das Volk, wie einst Homer und Hesiod die Götter gemacht haben.
Mit diesem Blick in eine Fabrik neapolitanischer Heiliger, in dies lange, tiefe, schauerliche Zimmer glaubte ich einen Blick in die Religion des Volks selbst getan zu haben, und ich gestehe, ganz verwirrt, ganz ekel ging ich hinweg und schöpfte wieder auf dem Molo Atem, als mein Auge auf die ewig reine, ewig klare, heilig große Natur fiel.
Nein, der Mensch ist nicht wie sie, ist nicht wie die Natur, die ihn umgibt; würde er denn sonst im Anblick dieses Meeres, dieses Himmels und dieser Berge so abscheuliche, kleine, beflitterte Puppen anbeten können? Es sind Pulcinellen, die Neapolitaner; das Wahre Symbol ihres Wesens ist der Pulcinella, nichts andres; ihr Leben ist ein komisches Theater, und selbst die Natur ist für sie nur als eine große Operndekoration anzusehen.
Ferdinand Gregorovius, um 1850
Ferdinand Gregorovius (1821-1891) war ein bedeutender deutscher Philologe und Historiker und bekannt für seine Studien über das Mittelalter in Rom. Seine “Wanderjahre in Italien” beschreiben in 5 Bänden (1856-1877) die verschiedenen Orte Italiens, unter anderem auch Capri und Neapel.
Seine Reisen im reifen Alter durch Neapel folgen nicht dem typischen Schema der Grand Tour, sondern eher einem intellektuellen Reisebericht. Wie in dem anderen veröffentlichten Bericht von Gregorovius über Dispotismus und Freiheit in Neapel, spielen die Theatralik und die Natur auch hier eine wesentliche Rolle. In diesem Fall ist das Thema ein religiöses Fest der Madonna del Mercato und Gregorovius Überzeugung von der Ferne von Natur und religiösem Schaupiel, sicher bis heute eine unbewusste Grundüberzeugung in Deutschland gegenüber dem katholischen und barocken Italien. So bezeichnet er die Neapolitaner schließlich als Pulcinellen, Liebhaber des großen Theaters und der künstlichen Dekoration.
Die bedeutendste Zubereitung der neapolitanischen Gastronomie ist ohne Zweifel die Pizza, ein Produkt, das heute eines der ertragreichsten Geschäfte auf den fünf Kontinenten darstellt, nicht nur für die Hersteller von Tiefkühlprodukten, sondern auch fuer die großen Geschäftsketten, die die Pizza als alternativen (und sicherlich gesünderen) Fast Food anstatt der Hamburger und Pommes Frites anbieten.
Anfänglich außerhalb Neapels nicht angenommen
Dennoch schrieb Matilde Serao im Jahr 1884 über die negative Erfahrung eines neapolitanischen Geschäftmannes, der in Rom eine prachtvolle Pizzeria aufmachte: “außerhalb des neapolitanischen Gebietes erschien die Pizza fehl am Platz und eintönig; ihr Stern verblaßte und ging in Rom unter; exotische Pflanze, sie starb an dieser römischen Pracht.”
Anerkennung Dank der Königin Margherita
Doch in nur fünf Jahren wurde die dreifarbige Pizza, die von dem geschätzten Pizzabäcker Raffaele Esposito zu Ehren der Königin Margherita zubereitet wurde, in allen Ländern berühmt. Im Jahr 1905 wurde dieser Begriff in das moderne italienische Wörterbuch Hoepli von Alfredo Panzini mit der folgenden Beschreibung aufgenommen: “gemeiner Name einer volkstümlichen, neapolitanischen Speise, steht vermutlich für “pinza”(Zange), von “pinsere”, zerstoßen; setzt sich aus einer Art Mehlfladen zusammen, der lange aufgehen muß; er wird mit San Marzano-Tomaten, Frischkäse, Sardellen, je nach Wunsch des Kunden belegt, in den Ofen geschoben, wo er weiter aufgeht und nach und nach gebacken wird. Die Pizzeria hingegen wurde als Geschäft, in dem die Pizza und andere neapolitanische Leckereien, wie der Mozzarella und das mit Sardellen gefüllte Brötchen zubereitet und gegessen werden.”
Die Etymologie des Begriffs Pizza
Die wahrscheinlichste Etymologie dieses Begriffes soll hingegen, wie der des Pitta oder Pita, das runde und nicht sehr aufgegangene Brot aus dem mediterranen Raum, von dem lateinischen Ausdruck Picea abgeleitet worden sein. Hierbei handelte es sich um einen Begriff, mit dem die Römer einen einfachen Brotfladen bezeichneten, der auf einer glühenden und eventuell mit Öl und Knoblauch bestrichenen Platte gebacken wurde.
Explosion der Sinne
Schon bei dem Ursprung dieses Wortes handelte es sich demnach um ein ärmliches Produkt – das zwar kein Warenzeichen besitzt, doch so bekannt wie ein Markenprodukt ist – und gleichzeitig um eine wahrhaftige Totem-Nahrung der gesundesten mittelländischen Tradition. Ein einfacher runder, mehr oder weniger aufgegangener Brotfladen, dessen Oberfläche, die fast den gesamten Teller in Anspruch nimmt, mit den verschiedensten Zutaten belegt werden kann. Das Ergebnis verwöhnt die fünf Sinne, die sich vervollständigen und doch fast widersprechen: das etwas säurliche Rot der Tomaten, das duftende Grün des Basilikums, das weiche und sich ziehende Weißgold des Weichkäses, doch auch das Silber und das Salzige der Sardellen, das Schwarz der Auberginen und das Pikante des Peperoncinos. Aufgrund dieser Bezeichnung bevorzugten einige eine weitere Etymologie des Begriffs: die des lateinischen Ausdrucks Picta, was soviel bedeutet wie “gemalt”.
Der Ursprung der heutigen Pizza
Das Jahr der Erschaffung dieser Pizza kann nicht genau festgelegt werden, da sie das Ergebnis einer ständigen Entwicklung der Focaccia (Fladen) darstellt, die wiederum schon in einem Dokument aus dem Jahr 997 als Pizza bezeichnet wurde. Die ersten Hinweise auf ein Produkt, das dem heutigen sehr ähnlich war, findet man in Schriften von Dumas, dem Älteren (1833) und in einigen Jugenderinnerungen von Francesco de Sanctis (1835). Doch auch schon auf den neapolitanischen Tempera- und Aquarellmalereien aus dem 18. Jahrhundert sind Wanderverkäufer abgebildet, die Pizzen mit Speck zubereiten und in den auf Holzkohlen gestellten Pfannen backen. Der Pizzateig ist so dünn ausgerollt, daß die fertige Speise in vier Teile geklappt werden kann.
Pizza auf Leihbasis
Soweit es Dumas betrifft, den Schriftsteller, der sehr viel Zeit dem Verständnis dieser mysteriösen Stadt widmete, sollte ein amüsantes Mißgeschick erzählt werden, das diesem Autor unterlief. Während Dumas die Beschreibung der Pizza verfasste, kam ihm ein geheimnisvolles pizza oggi a otto (Pizza heute zu acht) zu Ohren. Und so stellte er sie als ein mittelmäßiges Produkt dar, das erst eine Woche nach seiner Zubereitung und kostenlos verzehrt werden konnte. Es handelte sich hingegen um eine geschäftliche, sehr gewagte Initiative einiger unternehmungslustiger Pizzabäcker, die, um die Konkurrenz zu schlagen, dieses frisch aus dem Ofen gezogene Produkt “verschenkten”. Das heißt, der Kunde mußte sich dazu verpflichten, nach einer Woche den Betrag zuzüglich der Zinsen zu bezahlen.
Bei allen Klassen beliebt
Obwohl die Pizza eigentlich ein sehr volkstümliches, jedem zugängliches Produkt darstellte – sie wurde zum Beispiel in keiner der gastronomischen Fantasien von Pulcinella erwähnt – war sie trotz allem die bevorzugte Speise von Ferdinand II., dem parthenopeischten aller Bourbonenkönige. Später wurde sie von Mario Stefanile als das “Mittagessen der Reichen, das Abendessen der Vornehmen, der Wunsch eines jeden Feinschmeckers, die Sehnsucht der Verbannten” bezeichnet.
Die neapolitanische Tradition
Gemäß der neapolitanischen Tradition muß der Teig, der nur aus Wasser, Mehl und Salz besteht, sowohl lange Zeit vor dem Backen vorbereitet, als auch in kleinen Mengen aufgeteilt werden, die für eine Portion ausreichend sind. Danach wird der Teig auf einem Marmortisch ausgebreitet, indem man ihn mit den Handflächen platt schlägt, dann gewendet, bis er die gewollte Form und Dicke besitzt. Hierbei muß darauf geachtet werden, daß der Teig nicht “zu weit auseinandergezogen wird und reisst”, um ihn dann mit den verschiedensten Zutaten garnieren zu können. Das wichtigste für die Endqualität der Pizza ist vor allem die Backphase, die nur in einem Steinofen vorgenommen werden sollte, der aufgrund seiner Struktur die Hitze auf perfekte Weise verteilt und nur mit Holz betrieben wird.
Tradition und Innovation der Pizza
Ohne an die Ausschweifungen der Amerikaner und Mitteleuropäer heranzukommen, die mit ihrem unterschiedlich zubereiteten Teig und den verschiedenen Backmethoden keinen Neapolitaner begeistern können und ihre Pizzen mit allem Erdenklichen belegen, beginnen jedoch immer mehr Pizzabäcker Neapels und der Vesuvgegend neue Kreationen und neue Gourmetpizzen mit ausgewählten Produkten zu entwerfen.
Die ursprünglichen Pizzen in Neapel
Die wahren neapolitanischen Pizzen sind hingegen die antike und sehr einfache Pizza all’aglio e olio und die Marinara, die mit Tomaten, Öl, Salz, Oregano und eventuell schwarzen Oliven, Kapern und salzigen Sardellen zubereitet werden und nach Meinung der echten Pizzakenner die Teigqualität erkennen lassen. Durch die im Laufe der Zeit ständig steigenden Beliebtheit der Speise, wurden diesen Pizzen die Margherita, die heutzutage häufig al filetto di pomodoro (mit frischen Tomaten) bestellt wird, und die Calzone (oder gefüllte Pizza) hinzugefügt. Bei der gefüllten Pizza handelt es sich um eine Abweichung der Margherita, die mit Ricottakäse und Salami belegt und übergeklappt wird, sodaß sie eine halbmondartige Form annimmt. Eine weitere, auch typisch neapolitanische Pizzaart ist die einst sehr verbreitete, doch heute nur schwer aufzutuende Pizza ai cecenielli, die mit unbeschreiblich kleinen Fischen (auf italienisch bianchetti) zubereitet wird, die dem Teig einen einzigartigen Geschmack und Duft verleihen.
Seit 2010 als Tradition geschützt
Um die neapolitanische Tradition der Pizza zu verteidigen und zu schützen wurde im Februar 2010 die neapolitanische Pizza die Auszeichnung S.T.G. (Garantierte traditionelle Spezialität ) auf europäischer Ebene anerkannt. Die lokalen Pizzabäcker können sich somit wahlweise an die traditionelle Herstellungsweise und Zutaten richten und ein Markenzeichen an der Pizzeria aufhängen oder sich nach einem moderneren oder alternativeren Konzept der neapolitanischen Pizza richten. Einer meiner Touren beinhaltet auch einen Pizzakurz bei einer renommierten Pizzeria unweit der Promenade von Neapel, bei dem Sie mehr Informationen zu den Geheimnissen der Zubereiutng der Pizza in Neapel bekommen.
Phantastische Reiseberichte haben die Stadt betuscht. In Wirklichkeit ist sie grau: ein graues Rot oder Ocker, ein graues Weiß. Und ganz grau gegen Himmel und Meer. Nicht zum wenigsten dies benimmt den Bürger die Lust. Denn wer Formen nicht auffasst, bekommt hier wenig zu sehen. Die Stadt ist felsenhaft. Aus der Höhe, wo die Rufe nicht heraufdringen, vom Castell San Martino gesehen, liegt sie in der Abenddämmerung ausgestorben, ins Gestein verwachsen. Nur ein Uferstreifen zieht sich eben, dahinter staffeln die Bauten sich übereinander.
Mietskasernen mit sechs und sieben Stockwerken, auf Untergründen, an denen Treppen herauflaufen, erscheinen gegen die Villen als Wolkenkratzer. In den Felsengrund selbst, wo er das Ufer erreicht, hat man Höhlen geschlagen. Wie auf Eremitenbildern des Trecento zeigt sich hier und da in den Felsen eine Türe. Steht sie offen, so blickt man in große Keller, die Schlafstelle und Warenlager zugleich sind. Weiterhin leiten Stufen zum Meer, in Fischerkneipen, die man in natürlichen Grotten eingerichtet hat. Trübes Licht und dünne Musik dringt abends von dort nach oben.
Porös wie dieses Gestein ist die Architektur. Bau und Aktion gehen in Höfe, Arkaden und Treppen ineinander über. In allem wahrt man den Spielraum, der es befähigt, Schauplatz neuer unvorhergesehener Konstellationen zu werden. Man meidet das Definitive, Geprägte. Keine Situation erscheint so, wie sie ist, für immer gedacht, keine Gestalt behauptet ihr “so und nicht anders”. So kommt die Architkektur, dieses bündigste Stück der Gemeinschaftsrhytmik, hier zustande. Zivilisiert, privat und rangiert nur in den großen Hotel- und Speicherbauten der Kais – anarchisch, verschlungen, dörflerisch im Zentrum, in das man vor vierzig Jahren große Straßenzüge erst hineingehauen hat. Und nur in diesen ist das Haus im nordischen Sinn die Zelle der Stadtarchitektur. Dagegen ist es im Innern der Häuserblock, wie er, als sei es mit eisernen Klammern, an seinen Ecken zusammengehalten ist durch die Wandbilder der Madonna.
Niemand orientiert sich an Hausnummern. Läden, Brunnen und Kirchen geben die Anhaltspunkte. Und nicht immer einfache. Denn die übliche Neapolitaner Kirche prunkt nicht auf einem Riesenplatze, weithin sichtbar, mit Quergebäuden, Chor und Kuppel. Sie liegt versteckt, eingebaut; hohe Kuppeln sind oft nur von wenigen Orten zu sehen, auch dann ist es nicht leicht, zu ihnen zu finden; unmöglich, die Maße der Kirche aus der der nächsten Profanbauten zu sondern. Der Fremde geht an ihr vorüber. Die unscheinbare Tür, oft nur ein Vorhang, ist die geheime Pforte für den Wissenden. Ihn versetzt aus dem Wirrsal schmutziger Höfe ein Schritt in die lautere Einsamkeit eines hohen geweißten Kirchenraums. Seine Privatexistenz ist die barocke Ausmündung gesteigerter Öffentlichkeit. Denn nicht in den vier Wänden, unter Frau und Kindern geht sie hier auf, sondern in der Andacht oder in der Verzweiflung Nebenstraßen lassen den Blick über schmutzige Stiegen und Kneipen hinabgleiten, wo drei, vier Männer, in Abständen, hinter Tonnen verborgen wie hinter Kirchenpfeilern, sitzen und trinken.
In solchen Winkeln erkennt man kaum, wo noch fortgebaut wird und wo der Verfall schon eingetreten ist. Denn fertiggemacht und abgeschlossen wird nichts. Porosität begegnet nicht allein mit der Indolenz des südlichen Handwerkers, sondern vor allem mit der Leidenschaft für Improvvisieren. Dem muß Raum und Gelegenheit auf alle Fälle gewahrt bleiben. Bauten werden als Volksbühne benutzt. Alle teilen sie sich in eine Unzahl simultan belebter Spielflächen. Balkon, Vorplatz, Fenster, Torweg, Treppe, Dach sind Schauplatz und Loge zugleich. Noch die elendste Existenz ist souverän in dem dumpfen Doppelwissen, in aller Verkommenheit mitzuwirken an einem der nie wiederkehrenden Bilder neapolitanischer Straße, in ihrer Armut Muße zu genießen, dem großen Panorama zu folgen.
Walter Benjamin, 1924
Walter Benjamin entdeckt seiner Auffassung nach eine Liebe der Neapolitaner zum Unfertigen, die viel Platz zum Improvvisieren lässt. Die 1920er Jahre in Neapel, über 50 Jahre nach der Vereinigung Italiens, war eine Zeit der großen Armut und Auswanderung in die Usa. Neapels Gassen und Straßen, wie auch noch viele Jahrzehnte danach und bis heute noch in vielen Ecken Neapels sichtbar, waren ungestrichen oder direkt an oder in den Tufstein gehauen. Die Unbeständigkeit der verschiedenen Ortschaften entwickeln sich je nach Situation in Schauplätze, an denen auch die ärmste Schicht des neapolitanischen sich durch Improvisation an einem sich nie wiederholenden Theaterstück teilhaben können.
Walter Benjamin war ein deutscher Kunstkritiker und Philosoph der Frankfurter Schule. Im Jahr 1924 und 1925 verbringt er im Alter von 32 Jahren zusammen mit Theodor Adorno, Siegfried Kracauer und Alfred Sohn-Rethel mehrere Monate am Golf von Neapel. Der Golf von Neapel und die Amalfiküste waren in jenen Jahren ein beliebtes Reiseziel besonders von deutschen, englischen und russischen Philosophen und Künstlern, die hier Inspiration und Ruhe suchten.
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