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Neapel und Kampanien in der Literatur

La Capria und die Psychologie des Wunders

Es gelang ihm nicht, er brachte es nicht zuwege. Er war eben Neapolitaner. Der lebt in der Psychologie des Wunders, er wartet immer auf irgend etwas Ungewöhnliches, das seine Lage grundlegend ändert. Der doppelte Aspekt der Neapler Menschlichkeit mit seinem Gegensatz von Elend und Komödie, von Leben und Theater. Die beiden Neapel, eins das wahre und das andere die Garnierung. Das Neapel, das vom Meer bespült wird, und das, wohin das Meer nicht reicht, Vesuv und Gegen-Vesuv. Und so weiter. Na-ein, es gelang ihm nicht. Diese Neapolitaner bringen ihre Zeit damit hin, ganz vergnügt Mystifikationen des Geschlechts zu treiben, sie dem Meistbietenden zu verkaufen, Verständnis und Bewunderung zu heischen, als zögen sie Aussenstände ein – mit einem zugleich verlegenen und hochmütigen Gehabe. Es gelang ihm nicht. Sie verbüßen ein Schicksal, das stärker ist als sie, sie bezahlen die Schuld, daß sie von sich selbst eine Legende gemacht haben, auch für die anderen Neapolitaner. Die Schuld, daß sie von dieser Legende Nutzen ziehen. Daß sie daran glauben, sie mit dem eigenen Leben nähren. In ihr die Lossprechung von jeder Verdammnis suchen, die Ruhe des unruhigen Gewissens, die riesige, über die Ufer tretende Nachsicht der großen Mutter Neapel. Die große Mutter? Sag lieber die große Katze, die sie am Ende frißt, ohne daß sie ihnen auch nur die Zeit gibt, die Augen zur Welt aufzutun.

Raffaele La Capria, 1961
Raffaele La Capria – Italienische Fassung von „Ferito a morte“ (zu Tode verletzt)

Raffaele La Capria (Neapel, geb. 1922) ist ein italienischer Bühnenbildner und Schriftsteller mit Aufenthalten in Frankreich, England und den vereinigten Staaten von Amerika. La Capria hat Jura in Neapel studiert und schreibt heute noch Bücher und Artikel für den Kulturteil der Zeitung “Corriere della Sera”. Der Auszug ist aus dem Buch “Ferito a Morte”, das im Jahr 1961 den Literaturpreis “Strega” gewann und beschreibt die intensive Beziehung vieler Neapolitaner zum Aberglaube und zu den Mythen und Legenden der Stadt. Das Buch erzählt die Geschichte von bürgerlichen neapolitanischen Freunden, von dem einer nach Rom zieht und 6 Jahre spaeter seine Freunde an der Amalfiküste und Capri wiedertrifft.

Weitere Berichte und Zitate über Neapel und die Region findet ihr in meinem Blog.