Der gute und brauchbare Volkmann nötigt mich, von Zeit zu Zeit von seiner Meinung abzugehen. Er spricht z.B., daß dreißig- bis vierzigtausend Müßiggänger in Neapel zu finden wären, und wer spricht’s ihm nicht nach! Ich vermutete zwar sehr bald nach einiger erlangter Kenntnis des südlichen Zustandes, daß dies wohl eine nordische Ansicht sein möchte, wo man jeden für einen Müßiggänger hält, der sich nicht den ganzen Tag ängstlich abmüht. Ich wendete deshalb vorzügliche Aufmerksamkeit auf das Volk, es mochte sich bewegen oder in Ruhe verharren, und konnte zwar sehr viel übelgekleidete Menschen bemerken, aber keine unbeschäftigten.
Ich fragte deswegen einige Freunde nach den unzähligen Müßiggängern, welche ich doch auch wollte kennenlernen; sie konnten mir aber solche ebensowenig zeigen, und so ging ich, weil die Untersuchung mit Betrachtung der Stadt genau zusammenhing, selbst auf die Jagd aus.
Ich fing an, mich in dem ungeheuren Gewirre mit den verschiedenen Figuren bekannt zu machen, sie nach ihrer Gestalt, Kleidung, Betragen, Beschäftigung zu beurteilen und zu klassifizieren. Ich fand diese Operation hier leichter als irgendwo, weil der Mensch sich hier mehr selbst gelassen ist und sich seinem Stande auch äußerlich gemäß bezeigt. Ich fing meine Beobachtung bei früher Tageszeit an, und alle die Menschen, die ich hie und da stillstehen oder ruhen fand, waren Leute, deren Beruf es in dem Augenblick mit sich brachte.
Die Lastträger, die an verschiedenen Plätzen ihre privilegierten Stände haben und nur erwarten, bis sich jemand ihrer bedienen will; die Kalessaren, ihre Knechte und Jungen, die bei den einspännigen Kaleschen auf den großen Plätzen stehen, ihre Pferde besorgen und einem jeden, der sie verlangt, zu Diensten sind; Schiffer, die auf dem Molo ihre Pfeife rauchen; Fischer, die an der Sonne liegen, weil vielleicht ein ungünstiger Wind weht, der ihnen auf das Meer auszufahren verbietet. Ich sah auch wohl noch manche hin und wieder gehen, doch trug meist ein jeder ein Zeichen seiner Tätigkeiten mit sich. Von Bettlern war keiner zu bemerken als ganz alte, völlig unfähige und krüppelhafte Menschen. Je mehr ich mich umsah, je genauer ich beobachtete, desto weniger konnt’ich, weder von den geringen noch von der mittleren Klasse, weder am Morgen noch den größten Teil des Tages, ja, von keinem Alter und Geschlecht, eigentliche Müßiggänger finden.
Johann Wolfgang von Goethe, den 28. Mai 1787
Goethe war einer der größten Schriftsteller und Dichter der Geschichte Deutschlands und ist auch international anerkannt. Goethe reist im Alter von 37 Jahren im Jahr 1786 über etwa 2 Jahre bis 1788 das erste Mal nach Italien. Ein interessanter Bericht von Goethe über die Vorurteile, Geschäftstätigkeiten und den Müßiggang in Neapel zum Ende des 18. Jahrhunderts im borbonischen Neapel. Ein Vergleich zum heutigen Neapel ist sicherlich schwierig, da sich die Stadt und die Ausgangslage sicher verändert hat, auch wenn bis heute ähnliche Vorurteile vorherrschen. Vielleicht kann ein Vergleich zur kulturellen Verankerung im Umgang mit der Arbeit der Stadt Neapel in der Zeit Goethes mit dem heutigen Neapel oder deutschen Großstädten verglichen werden, in diesem Fall sollte man es aber auch heute, trotz der momentanen hohen Arbeitslosigkeit in der Stadt und der gesamten Region Kampaniens, versuchen es wie Goethe es damals gemacht hat: mit einem sympathischen und offenen Blick, der Vorurteile aus einer anderen Perspektive beobachten möchte!
Weitere Berichte und Zitate über Neapel und die Region findet ihr in meinem Blog.