Auf Anfrage von Tacitus erzählt Plinius der Jüngere auch seine persönlichen Erfahrungen vom Ausbruch des Vesuvs. Plinius gibt seiner Berichterstattung mit großer Bescheidenheit keinen besonderen Wert, aus heutiger Sicht ist der zweite Brief aber kaum weniger spannend als der erste, denn das Kap Misenum liegt auf etwa 30 Kilometer Entfernung vom Vesuv und der Bericht klärt uns somit über die Auswirkungen des Ausbruchs auf weiterer Entfernung auf.
Hinzu kommt, daß Kap Misenum entgegen der Windrichtung gelegen war und somit die Gegend im Inland und im Süden des Vesuvs weiteraus stärker betroffen gewesen sein mußte als der relativ sicher gelegene Militärhafen im Nordwesten von Pozzuoli. Ein beeindruckender Bericht über erlebte Furcht, Erdbeben, einbrechende Nächte, Ascheregen und rollende Wagen vom nordwestlichen Ende des Golfs von Neapel.
EPISTULAE VI, 20
„C. Plinius grüsst seinen Tacitus
Du schreibst mir, der Brief, in welchem ich Dir auf Deinen Wunsch vom Tod meines Onkels berichtet habe, wecke in Dir das Verlangen zu erfahren, welche Ängste, welche Gefahren ich, in Misenum zurückgeblieben, ausgestanden habe; denn als ich darauf zu sprechen kam, habe ich abgebrochen. Sei’s denn, wie sehr auch die Erinnerung mir die Seele schaudernd mag empören!
Als mein Onkel fort war, verwendete ich den Rest des Tages auf meine Studien (weswegen ich ja daheimgeblieben war); dann Bad, Abendessen, kurzer, unruhiger Schlaf. Vorangegangen waren mehrere Tage lang nicht eben beruhigende Erdstösse – Kampanien ist ja daran gewöhnt –; in jener Nacht wurden sie aber so stark, dass man glauben musste, alles bewege sich nicht nur, sondern stehe auf dem Kopfe. Meine Mutter stürzte in mein Schlafzimmer, ich wollte gerade aufstehen, um sie zu wecken, falls sie schliefe. Wir setzten uns auf den Vorplatz des Hauses, der in mässigem Abstand das Meer von den Gebäuden trennte.
Ich weiss nicht, ob ich es Gleichmut oder Unüberlegtheit nennen soll (ich war ja erst 18 Jahre alt); ich lasse mir ein Buch des Titus Livius bringen, lese, als hätte ich nichts Besseres zu tun, exzerpiere auch, wie ich begonnen hatte. Da kommt ein Freund meines Onkels, der kürzlich bei ihm aus Spanien eingetroffen war, und als er mich und meine Mutter dasitzen sieht, mich sogar lesend, schilt er ihre Gleichgültigkeit, meine Unbekümmertheit; trotzdem blieb ich bei meinem Buche.
Es war bereits um die erste Stunde, und der Tag kam zögernd, sozusagen schläfrig herauf. Die umliegenden Gebäude waren schon stark in Mitleidenschaft gezogen, und obwohl wir uns auf freiem, allerdings beengtem Raum befanden, hatten wir eine starke und begründete Furcht, dass sie einstürzen könnten.
Jetzt schien es uns ratsam, die Stadt zu verlassen. Eine verstörte Menschenmenge schliesst sich uns an, lässt sich – was bei einer Panik beinahe wie Klugheit aussieht – lieber von fremder statt von der eigenen Einsicht leiten und stösst und drängt uns in endlosem Zuge mit sich fort.
Als wir die Häuser hinter uns hatten, blieben wir stehen. Da sahen wir allerlei Sonderbares, Beklemmendes geschehen. Die Wagen, die wir hatten herausbringen lassen, rollten hin und her, obwohl sie auf ganz ebenem Terrain standen, und blieben nicht einmal auf demselben Fleck, wenn wir Steine unterlegten. Ausserdem sahen wir, wie das Meer sich in sich selbst zurückzog und durch die Erdstösse gleichsam zurückgedrängt wurde. Jedenfalls war der Strand vorgerückt und hielt zahllose Seetiere auf dem trockenen Sande fest. Auf der anderen Seite eine schaurige, schwarze Wolke, kreuz und quer von feurigen Schlangenlinien durchzuckt, die sich in lange Flammengarben spalteten, Blitzen ähnlich, nur grösser. Da drängte wieder der Freund aus Spanien heftiger und dringender: „Wenn dein Bruder, dein Onkel noch lebt, möchte er auch euch lebend wiedersehen; ist er tot, war es gewiss sein Wunsch, dass ihr am Leben bliebet. Was säumt ihr also, euch zu retten?“´ Wir erwiderten, wir könnten es nicht über uns gewinnen, an uns zu denken, solange wir über sein Schicksal im ungewissen seien. Er liess sich nicht länger halten, stürzte davon und entzog sich im gestreckten Lauf der Gefahr.
Nicht lange danach senkte sich jene Wolke auf die Erde, bedeckte das Meer, hatte bereits Capri eingehüllt und unsichtbar gemacht, hatte das Kap Misenum unseren Blicken entzogen. Da bat und drängte meine Mutter, befahl mir schliesslich, mich irgendwie in Sicherheit zu bringen; ich als junger Mann könne es noch, sie, alt und gebrechlich, werde ruhig sterben, wenn sie nur nicht meinen Tod verschuldet habe. Ich dagegen: ich wolle nur mit ihr zusammen am Leben bleiben; damit fasste ich sie bei der Hand und nötigte sie, ihre Schritte zu beschleunigen. Widerstrebend fügte sie sich und machte sich Vorwürfe, dass sie mich aufhalte.
Schon regnete es Asche, doch zunächst nur dünn. Ich schaute zurück: Im Rücken drohte dichter Qualm, der uns, sich über den Erdboden ausbreitend, wie ein Giessbach folgte. „Lass uns vom Wege abgehen“, rief ich, „solange wir noch sehen können, sonst kommen wir auf der Strasse unter die Füsse und werden im Dunkeln von der mitziehenden Masse zertreten.“ Kaum hatten wir uns gesetzt, da wurde es Nacht, aber nicht wie bei mondlosem, wolkenverhangenem Himmel, sondern wie in einem geschlossenen Raum, wenn man das Licht gelöscht hat. Man hörte Weiber heulen, Kinder jammern, Männer schreien; die einen riefen nach ihren Eltern, die anderen nach ihren Kindern, wieder andere nach ihren Männern oder Frauen und suchten sie an den Stimmen zu erkennen; die einen beklagten ihr Unglück, andere das der Ihren, manche flehten aus Angst vor dem Tode um den Tod, viele beteten zu den Göttern, andere wieder erklärten, es gebe nirgends noch Götter, die letzte, ewige Nacht sei über die Welt hereingebrochen. Auch fehlte es nicht an Leuten, die mit erfundenen, erlogenen Schreckensnachrichten die wirkliche Gefahr übersteigerten. Einige behaupteten, in Misenum sei dies und das eingestürzt, anderes stehe in Flammen – blinder Lärm, aber sie fanden Glauben.
Dann hellte es sich ein wenig auf, doch es war anscheinend nicht das Tageslicht, sondern ein Vorbote des nahenden Feuers. Aber das Feuer blieb in ziemlicher Entfernung stehen; es wurde wieder dunkel, wieder fiel Asche, dicht und schwer, die wir, fortgesetzt aufstehend, abschüttelten; wir wären sonst verschüttet und durch die Last erdrückt worden. Ich könnte damit prahlen, dass sich mir trotz der furchtbaren Gefahr kein Seufzer, kein verzagtes Wort entrungen hatte, hätte ich nicht – ein schwacher, aber für uns Menschen immerhin ein im Tode wirksamer Trost – fest geglaubt, ich ginge mit allem und alles mit mir zugrunde.
Endlich wurde der Qualm dünner und verflüchtigte sich sozusagen zu Dampf oder Nebel. Bald wurde es richtig Tag, sogar die Sonne kam heraus, doch nur fahl wie bei einer Sonnenfinsternis. Den noch verängstigten Augen erschien alles verwandelt und mit einer hohen Ascheschicht wie mit Schnee überzogen.
Wir kehrten nach Misenum zurück, machten uns notdürftig wieder zurecht und verbrachten eine unruhige Nacht, schwankend zwischen Furcht und Hoffnung. Die Furcht überwog, denn die Erdstösse hielten an, und viele Leute, wie wahnsinnig von schreckenerregenden Prophezeiungen, witzelten über ihr und der anderen Unglück. Wir konnten uns, obwohl wir die Gefahr aus eigener Erfahrung kannten und weiter auf sie gefasst waren, nicht entschliessen wegzugehen, ehe wir nicht Nachricht von meinem Onkel hatten.
Dies alles gehört gewiss nicht in ein Geschichtswerk, und so wirst Du es lesen, ohne Gebrauch davon zu machen; aber Du hast ja danach gefragt und hast es somit Dir selbst zuzuschreiben, wenn es Dir nicht einmal einen Brief zu verdienen scheint.
Leb wohl!“
Lesen Sie auch den ersten Brief von Plinius dem Jüngeren auf meinem Blog.
Weitere Infos finden Sie in meinem Blog zur Geschichte Neapels und Kampaniens