„Wie dein Name verrät, bist Du wohl Neapolitaner. Und ich muß wohl, bevor ich mit Deiner Beschreibung beginne, kurz die naheliegende Frage beantworten, warum ich ausgerechnet einen Neapolitaner in Dir sehen möchte.
Ich schreibe Anfang des Jahres 1975, und gerade heute, in dieser Periode, verkörpern die Neapolitaner für mich – auch wenn ich schon seit einiger Zeit nicht mehr in Neapel war – eine Kategorie von Menschen, die mir als konkrete Personen, vor allem aber auch in ihrer Weltanschauung, ungemein sympathisch sind. Sie haben sich nämlich in all diesen Jahren, genauer gesagt, in diesem Jahrzehnt, kaum verändert. Sie sind die alten Neapolitaner, die sie immer gewesen sind, in ihrer ganzen Geschichte. Und das ist mir das Wichtigste, auch wenn ich deswegen in schlimmsten Verdacht geraten kann und zuletzt nur noch als Außenseiter, Verräter und Nichtsnutz dastehe.
Aber was tut das? Mir ist nunmal die Armut der Neapolitaner lieber als der Wohlstand der italienischen Republik, und all die kleinen Komödien – mögen sie auch naturalistisch derb sein -, die man heute noch in den Elendsquartieren Neapels erleben kann, sind mir lieber als alle Komödien im Fernsehen der italienischen Republik.
Mit den Neapolitanern verbindet mich eine extreme Vertrautheit, da wir uns gegenseitig Mühe geben müssen, einander zu verstehen. Neapolitaner nehmen mir jede körperliche Scheu; sie haben in ihrer Unschuld keinerlei Scheu vor mir. Bei Neapolitanern habe ich immer das Gefühl, ihnen etwas beibringen zu können, weil sie ihrerseits wissen, daß sie mir durch ihr Zuhören einen Gefallen tun. Ein ganz ungezwungener Wissensaustausch also. Ich kann einem Neapolitaner unbekümmert sagen, was ich weiß, weil ich vor seinem Wissen einen tiefen, fast mythischen Respekt habe, der trotzdem voller Heiterkeit und ungebrochener Zuneigung ist.
Selbst Betrügereien sind mir eine Art Wissensaustausch. Einmal, während einer sehr gefühlsgeladenen Episode mit einem Neapolitaner, merkte ich plötzlich, wie er mir langsam die Brieftasche herauszog. Ich habe es ihm gesagt – und wir haben uns noch mehr gemocht.
Ich hätte große Lust, noch seitenlang weiter zu erzählen und aus diesem kleinen Traktat einen Traktat über die Beziehungen zwischen einem norditalienischen Bürger und dem Neapolitaner zu machen. Aber ich will mich vorläufig beherrschen und auf Dich zurückkommen…
Jemand könnte nun einwenden, ein Junge aus dem Volk sei, so wie ich Dich eben beschrieben habe, eine Art Wunder. Stimmt; eigentlich kannst Du nur ein Bürgerkind sein, das aufs Gymnasium geht. Wobei ich Dich allerdings auch für ein Wunder hielte, wenn du Mailander, Florentiner oder, heutzutage, Römer wärest. Aber die Tatsache, daß Du Neapolitaner bist, schließt nicht aus, daß Du als Bürgerkind von innen heraus schön sein kannst. Neapel ist heute die letzte plebejische Metropole, das letzte große Dorf (und zudem auf Grund kultureller Traditionen nicht italienisch im engen Sinne): ein umfassendes historisches Faktum, das die Gesellschaftsschichten einander körperlich und geistig angleicht.
Vitalität war schon immer ein Quell von Herzlichkeit und naiver Gutartigkeit, und in Neapel sind alle voller Vitalität, der Straßenjunge genauso wie der Bürgersohn.“
Pier Paolo Pasolini, 1975
Pier Paolo Pasolini (Bologna, 5. März 1922 – Rom, 2. November 1975) war ein italienischer Dichter, Regisseur, Schriftsteller und einer der bedeutendsten Intellektuellen des italienischen 20. Jahrhunderts. Er wurde bekannt für seine harrsche Kritik an der Kunsumgesellschaft und den bürgerlichen Gewohnheiten, die er gerne als Anpassung und neuen Faschismus beschrieb. Neapels 60er Jahre waren von recht starker Armut bestimmt, die Stadt wurde oft als zu sehr die eigenen Traditionen liebend und als unpassend für das moderne Wirtschaftssystem beschrieben und daher oft kritisiert. Auf Pasolini und andere berühmte Kritiker der Konsumgesellschaft hat Süditalien, aber speziell Neapel, eine besondere Faszination ausgeübt.
Ein schöner Text Pasolinis zur Vitalität, Herzlichkeit und den persönlichen Beziehungen innerhalb der letzten menschlichen Großstadt Italiens.
Weitere Berichte und Zitate über Neapel und die Region findet ihr in meinem Blog.