An dem Tag, da dieses Urteil gesprochen wurde, fragte die italienische Nation noch einmal nach der Camorra, nach ihrem Wesen und Unwesen, nach ihren Geheimnissen und nach Verfahren, die geeignet wären, sie auszurotten. Der Prozeß von Neapel hatte sie nicht zur Strecke gebracht. Aber wären die Reporter der Linkspresse statt Anklagen zu erheben und Mutmaßungen anzustellen, aufs Land gefahren und hätten ein paar Tomatenbauern gefragt, hätten sie sich nicht im Labyrinth der ergebnislosen Verhöre und der unbeweisbaren Gerüchte verloren, hätten sie die neoveristische Kulisse des Vasto-Viertels und des Corso Novara verlassen und sich dem Zentrum von Neapel zugewandt, der Via Caracciolo, der Piazza San Ferdinando oder den neuen Wolkenkratzern bei der Via Roma, so wären sie auf einen bemerkenswerten Sachverhalt gestoßen. Die Analyse, die da so eifrig vorgenommen wurde, war in Wirklichkeit eine Autopsie. Sie galt einem Leichnam.
Die finstere, die gefährliche, geheimnisumwitterte und mächtige Neue Camorra war in den vier Jahren, die seit dem dramatischen Kugelwechsel von 1955 verstrichen waren, ohne Razzia und Haftbefehl, ohne Sensationsprozeß und Skandal, lautlos zu Boden gegangen. Kein entschlossener Polizeipräsident hatte sie zur Strecke gebracht. Zehn Jahre lang hatte die Neue Camorra in Neapel geblüht, ein Anachronismus, eine Verbindung skrupelloser, aber altmodischer Amateure. Ihre Stunde schlug, als der Fortschritt nach Neapel kam, und der Fortschritt kam mit den Figuren des großen Kapitals. Die Zeit der kleinen Halunken und Mörder, der Pasqualones und Espositos, die Zeit des Melodrams, der Omertà, der edlen und der schmierigen Guapos war vorbei.
Wendige Manager, Juristen und Steuerfachleute erschienen, blitzende Verwaltungsgebäude wurden erbaut, an die Stelle der Knüppel und der Pistolen traten andere Waffen: Verträge und Wechsel, Kredite und Klauseln. Sie waren wirksamer. In unblutigen Hemden betraten die neuen Herren über Tomaten und Orangen die Szene. Sie verstanden etwas von Finanzierungen, hinter ihnen standen die Konservenfabriken und Exportbanken, die Industriellen des Nordens, und die Geldleute von Rom. Und sie schlugen die Camorra, indem sie ihr Werk fortsetzten, das Werk der Ausbeutung. Sie schlugen sie ohne Blutvergießen. Blutvergießen war antiquiert. Sie schlugen sie en gros, nicht en dètail. Polizei und Justiz hatten sie nicht gegen sich, Behörden und Regierungsstellen waren auf ihrer Seite. Die Neue Camorra war nicht neu genug. Die neueste hieß: Kartell. Der Krieg um die Tomaten dauerte nicht lange. Die Kartellstrategen führten ihn in zwei Etappen.
Hans Magnus Enzensberger, 1964
Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929 in Kaufbeuren) ist ein deutscher Dichter, Schriftsteller, Herausgeber, Übersetzer und Redakteur. Der Auschnitt aus dem Essay “Politik und Verbrechen” aus dem Jahr 1964 gibt interessante Hinweise aus die Schwierigkeit die Camorra und das organisierte Verbrechen zu klassifizieren und sie unabhängig von den großen Interessen zu sehen. Auch heute noch wird die Camorra fast mit einer pyramidalen Struktur verbunden und gemeinhin als Mafia bezeichnet: die lokale hohe Arbeitslosigkeit hat zu verschiedenen Clans geführt, nach Interessengebieten und Ortschaften sortiert, die sich in verschiedenen Kämpfen praktisch bekriegt haben. Verstrickungen zwischen den Clans und Politik und Unternehmen sind auch heute noch sehr wahrscheinlich.
Weitere Berichte und Zitate über Neapel und die Region findet ihr in meinem Blog.